Mit 125 Jahren zählt die Stiegelmeyer-Gruppe zu den langlebigsten deutschen Unternehmen, älter als viele berühmte Traditionsmarken von BMW bis Haribo. Was ist das Geheimnis dieses Erfolgs?
Anja Kemmler: Die Stiegelmeyer-Gruppe war von Anfang an familiengeführt. Bei allen Entscheidungen in unserer Familie hat das Unternehmen seit jeher eine wichtige Rolle gespielt. Es war immer solide finanziert – und es gab immer die Bereitschaft, sich zu verändern. Wir stellen uns bestmöglich auf neue Rahmenbedingungen ein und behalten das Wesentliche im Fokus. Unser kompetentes Team ist ebenso entscheidend wie der passende Produkt-Mix. Für eine lange Erfolgsgeschichte gibt es nicht nur ein Geheimrezept, es müssen viele Faktoren zusammenkommen. Und natürlich gehört dazu auch immer wieder ein Quäntchen Glück, um zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Die Familie von Hollen-Kemmler ist mit dem Unternehmen verbunden, seit Ihr Urgroßonkel Dietrich von Hollen 1920 Geschäftsführer wurde. Gibt es in Ihrer Familie eine Tradition alter Geschichten und Anekdoten, die von Generation zu Generation überliefert wurden?
AK: Leider nein, obwohl ich das gern bejahen würde. Mein Großvater Hans von Hollen ist als Nachfolger meines Urgroßonkels erst spät in das Unternehmen eingestiegen. Meine Mutter Barbara von Hollen war damals bereits erwachsen und auf dem Weg in die Schweiz, wo unsere Familie heute lebt. Einen Familientisch mit Anekdoten gab es daher nicht. Wir haben uns diese Tradition später mit unserer Chronik zurückerobert, die jetzt zum Jubiläum in einer neuen aktuellen Ausgabe erscheint. Es war meinem Vater Max Kemmler und mir ein großes Anliegen, unserem Unternehmen eine Geschichte in schriftlicher Form zu geben. Alle Dokumente zur Historie von Stiegelmeyer sind in unserem Archiv in Herford zusammengetragen.
Große Jubiläen kommen im 25-Jahres-Takt. Sie, Frau Kemmler, haben den 100. Stiegelmeyer-Geburtstag im Jahr 2000 bereits mitgefeiert. Wie hat sich unser Unternehmen seitdem verändert?
AK: Stiegelmeyer hat sich einer Frischekur unterzogen. Die Rückkehr der Gesellschafterfamilie in die Geschäftsführung hat viele Veränderungen bewirkt. Wir haben unsere Standorte modernisiert und in die internationale Ausrichtung des Unternehmens investiert. Beginnend mit Frankreich im Jahr 2000 wurden weltweit fünf Tochtergesellschaften gegründet, von Finnland bis Südafrika. Eine neue Unternehmenskultur, eine moderne Strategie und eine zeitgemäße Kommunikation nach innen und außen helfen der Stiegelmeyer-Gruppe dabei, zu einem internationalen Team auf Augenhöhe zusammenzuwachsen.


Georgios Kampisiulis Kemmler: Wir haben viel erreicht, aber gerade bei der Schaffung einer globalen Unternehmenskultur liegt noch ein großes Wegstück vor uns. Es ist sehr wichtig, dass wir nicht immer die deutsche Perspektive einnehmen, sondern ein tiefes Verständnis für die Anforderungen der Kollegen und Partner in anderen Ländern entwickeln. Ich wünsche mir für unser Unternehmen einen internationalen Standard, der eine gemeinsame Philosophie und ein einheitliches Auftreten umfasst.
Vor fünf Jahren rief Stiegelmeyer die „Goldenen Zwanziger“ aus. Kurz darauf kam Corona, dann begann der Ukraine-Krieg. Viele Menschen haben heute den Eindruck, dass unsere Gegenwart nur noch aus Krisen besteht. Wie geht die Stiegelmeyer-Gruppe damit um?
AK: Ich mache mir Sorgen, dass Deutschland auf dem Pannenstreifen der Weltwirtschaft verharrt. Die Überregulierung in der EU schadet dem Mittelstand, das ist eine große Herausforderung für unser Unternehmen.

GKK: Deutschland steht sich mit seiner Wirtschaftspolitik und Bürokratisierung selbst im Weg. Dennoch würde ich die Gegenwart nicht so stark als Ausnahmesituation bewerten. Es gibt für Unternehmen immer wieder Herausforderungen – für Stiegelmeyer zwar zum Beispiel 2003 ein sehr schwieriges Jahr. Krisen und Kriege sind Rahmenbedingungen, auf die wir kaum Einfluss nehmen können. Es ist unsere Aufgabe, uns darauf einzustellen und Lösungen zu finden, mit denen wir trotzdem erfolgreich sein können.
Ein aktuelles Beispiel für wirtschaftliche Herausforderungen sind Handelskonflikte, die durch US-amerikanische Zölle und die zu erwartenden Gegenzölle drohen. Stiegelmeyer verkauft keine Produkte in die USA, aber Mitbewerber tun dies oder stammen von dort. Welche Folgen erwarten Sie für den Markt der medizinischen Betten?
GKK: Zum einen muss man abwarten, ob die USA hier nicht nur ein Drohszenario aufbauen, um bestimmte Ziele zu erreichen, und die Zölle am Ende gar nicht kommen. Zum anderen ist die wirtschaftliche Dominanz der USA so stark, dass viele Länder sich Gegenzölle in gleicher Höhe gar nicht erlauben können. Sollte nun etwa Mexiko dennoch Zölle auf US-Importe erheben, könnte uns das kurzfristig einen Preisvorteil bescheren. Auf der anderen Seite könnten sich Mitbewerber, die beim Export in die USA hohe Zölle zahlen müssen, stattdessen mehr auf Europa oder Asien konzentrieren und dort den Konkurrenzdruck weiter erhöhen. Generell würde ich das Thema Handelskrieg aber nicht überbewerten. In einem Jahr kann die Situation schon wieder ganz anders aussehen.

In welchen Ländern sehen Sie zurzeit besonders gute Chancen für unser Unternehmen?
GKK: Erfolgreich sind wir im Moment z. B. in Norwegen und gemeinsam mit unserem österreichischen Partner ZS Medizintechnik in den südosteuropäischen Ländern. Diese Erfolge beruhen oft auf bestimmten großen Projekten und lassen sich noch nicht verlässlich in die Zukunft fortschreiben. Unser Ziel ist es, die Konstanz und die vertrauensvollen Kundenbeziehungen in unserem Heimatmarkt Deutschland auch in anderen Ländern zu erreichen. In den Niederlanden, in Belgien, Finnland, Polen und Südafrika sind wir auf einem guten Weg, haben uns einen Namen gemacht und ein Plateau erreicht, von dem aus wir weiterwachsen können. Das gilt auch für Frankreich, wo wir nach 20 Jahren intensiver Arbeit jetzt einen vielversprechenden Durchbruch mit dem Gewinn einer wichtigen Ausschreibung erzielt haben. In jedem Markt gilt: Wir können uns nicht zurücklehnen, sondern müssen mit aller Kraft unsere Arbeit fortsetzen. So wie in unserer Schwerpunktregion Lateinamerika, wo wir zurzeit mit großem Engagement ein Händlernetz aufbauen.
Kommen wir von den Märkten der Zukunft zu den Produkten der Zukunft. Künstliche Intelligenz (KI) gilt zurzeit als die wichtigste technische Entwicklung. Vom Auto bis zur Waschmaschine enthalten immer mehr Produkte KI-Funktionen. Demnächst auch medizinische Betten?
AK: Künstliche Intelligenz ist vor allem interessant für unsere internen Prozesse. Hier nutzen wir sie bereits, und sie wird uns in Zukunft noch stärker unterstützen, von der Konstruktion und Entwicklung bis zum Briefeschreiben. In unseren Produkten halte ich KI auf dem heutigen Stand der Technik nur bedingt für einsetzbar, blicke aber gespannt auf die kommenden Jahre. Schon jetzt liefert die Auseinandersetzung mit KI unseren Entwicklern Denkanstöße für das Bett der Zukunft. Ein interessantes Kapitel in unserer neuen Chronik widmet sich diesem Thema.

GKK: Ein Bett bleibt letztlich ein Bett. Die Menschen werden darin liegen, und es wird nicht schweben. Was technisch möglich und global gefragt sein wird, muss sich zeigen. Nehmen wir als Beispiel autonom fahrende Krankenhausbetten: Ich glaube, dass dies möglich wäre – aber Patienten, die im Stationsbett von einem Ort zum anderen gefahren werden, sind ein sehr deutsches oder schweizerisches Phänomen. International wäre das Interesse an einer solchen Innovation vermutlich gering. Ich glaube, dass Menschen auch in Zukunft von Menschen gepflegt werden und nicht von Robotern. Bei einfacheren Tätigkeiten wie dem Verteilen von Mahlzeiten kann KI aber für Entlastung sorgen – oder auch als Simultanübersetzer, wenn Bewohner und Pflegekraft unterschiedliche Sprachen sprechen.
Unser Unternehmen ist schon heute mit dem Connectivity Lab in Herford in puncto Digitalisierung gut aufgestellt und bietet etwa moderne Out-of-Bed-Systeme an.
AK: Ich bin überzeugt, dass Connectivity einen echten Mehrwert bietet, aber der Markt ist noch nicht immer bereit, dafür zu bezahlen. Diese Entwicklung braucht viel mehr Zeit, als wir und unsere Mitbewerber ursprünglich angenommen haben.
GKK: Mit Connectivity im Gesundheitswesen verhält es sich ähnlich wie mit den Elektroautos: Wenn es eine staatliche Förderung gibt, wird das Thema nachgefragt. Entfällt die Förderung, geht das Interesse zurück, weil die Benefits allein noch nicht stark genug sind. Die Lehre für uns ist, dass wir bei der Digitalisierung am Ball bleiben und nichts verschlafen, dass wir uns aber nicht davon abhängig machen und immer auch eine Alternative anbieten.
Wagen wir schon jetzt einen Blick auf unser 150-Jahr-Jubiläum 2050. Was sind bis dahin unsere Ziele?
AK: Wichtig sind ein kontinuierliches Wachstum und Erfolge auf unseren internationalen Fokusmärkten. Ich bin zuversichtlich, dass die Stiegelmeyer-Gruppe als attraktiver Arbeitgeber und guter Ausbildungsbetrieb auch weiterhin fähige Köpfe anziehen wird, um diese Ziele zu erreichen. Und in den kommenden 25 Jahren wird sich zeigen, inwieweit unsere drei Söhne als die nächste Generation unserer Familie im Unternehmen Verantwortung übernehmen. Hier gilt, was wir immer schon gesagt haben: Wir üben keinen Druck aus. Unsere Aufgabe ist es, gefestigte, verantwortungsbewusste und glückliche junge Menschen in die Welt zu entlassen. Jeder soll die Ausbildung genießen, die er sich wünscht. Wir sind zuversichtlich, dass das Interesse für Stiegelmeyer da sein wird. Gute Voraussetzungen sind bereits vorhanden. Unser ältester Sohn studiert Banking & Finance, und der zweite Sohn macht gerade Abitur und hat danach Interesse an einem Maschinenbaustudium.

GKK: Dass die Eigentümerfamilie operativ in der Firmenleitung mitwirkt, so wie wir es in den vergangenen zwölf Jahren getan haben, ist nicht zwingend erforderlich. Wir können uns gut vorstellen, auch weiterhin eng mit Geschäftsführern zusammenzuarbeiten. Wichtig ist, dass die Gesellschafter ein wirtschaftliches und technisches Gesamtverständnis haben, dass sie die Märkte und die Kunden verstehen. Wir müssen Menschen um uns herum aufbauen können, die das gleiche Mindset haben wie wir und das Unternehmen gemeinsam mit uns in die Zukunft führen. Und da sehe auch ich bei unseren Söhnen bereits gute Voraussetzungen.
AK: Die nächste Generation wird unser volles Vertrauen und unseren Rückhalt genießen. Wir werden unsere Kinder unterstützen, wo immer wir können. Wir leben für unsere Familie, sie wird für uns immer im Mittelpunkt stehen – sei es das Familienunternehmen oder die Familie als kleinste Einheit.
Vielen Dank für das interessante Gespräch.
Das Interview führten Christoph Prevezanos und Manuel Jennen.